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Geschichte

Die Geschichte der alten und neuen Orgel

Ernst Röver

Als die Orgel in Auftrag gegeben wurde, die jetzt für die St. Stephani-Kirche in Calbe vorgesehen ist, war ihr Erbauer Ernst Röver (geb. 1856, gest. 1923) bereits auf dem Höhepunkt seines Ruhmes. Aus Stade an der Elbemündung (westlich von Hamburg) stammend, hatte er 1884 die Orgelbauwerkstatt in Hausneindorf bei Quedlinburg gekauft, deren Inhaber Emil Reubke kurz zuvor unerwartet verstorben war. Binnen weniger Jahre hatte Ernst Röver die Hausneindorfer Werkstatt zu großer Bekanntheit gebracht, die sich auf weite Teile Deutschlands und auch ins Ausland erstreckte. Der Grund dafür waren eigene Erfindungen Ernst Rövers, die bahnbrechend waren für den damals modernen Orgelbau.

Er hatte ein eigenes System entwickelt, nach welchem die innere Technik seiner Orgeln funktionierte, und dieses System war so überzeugend, dass überall im Lande die Fachleute Orgeln nach diesem System bauen lassen wollten. Niemand unter den Orgelbaumeistern der damaligen Zeit vermochte es, Rövers System in gleicher Qualität und Zuverlässigkeit nachzubauen, so dass nur er es schaffte, zeit seines Lebens Orgeln einzig und allein nach diesem System zu bauen. 200 Orgeln entstanden in seiner Werkstatt, bei manchen von ihnen hatte Röver es zuvor geschafft, sich mit seinem Angebot gegen die größten Konkurrenten auf dem damaligen Markt durchzusetzen.

Und so kam er in den Genuss, unter anderem riesige Orgeln für Dome und Kathedralen zu bauen, etwa für die Hamburger Hauptkirche St. Nikolai (1891 mit 101 Registern) und den Magdeburger Dom (1906 mit 100 Registern).

Die "neue" Orgel

Im Jahre 1898 wurden die Stadtväter der Stadt Barmen (die heute einen der beiden Teile der Stadt Wuppertal bildet) bei Ernst Röver vorstellig. Sie hatten eine neue Stadthalle bauen lassen und wollten für sie eine gute Konzertorgel erwerben. Röver war damals im Bergischen Land und im Sauerland bereits bekannt, eine ganze Reihe kleinerer Orgeln hatte er dorthin geliefert. Und so kam es zum Mietvertrag über eine Konzertorgel für die Stadthalle Barmen mit 3 Manualen (Tastenreihen) und 44 Registern (Klangfarben).

Im Februar 1899 war dieses Werk fertig aufgebaut und wurde eingeweiht – Ernst Rövers Frau Luise erzählt darüber in ihrem Tagebuch, denn zur Einweihung ist sie ihrem Mann nach Barmen hinterhergereist, und nach den Feierlichkeiten sind sie zusammen weitergereist zum Karneval in Köln, den sie beide noch nie zuvor gesehen hatten. Leider war der Röver-Orgel in Barmen kein langes Leben beschieden.

Denn 1921 entschloss man sich, die Stadthalle umzubauen und zu vergrößern, und da passte die Orgel in ihrer Größe nicht mehr und so wurde der Mietvertrag nicht verlängert. Der damalige Kantor in der Martinikirche von Halberstadt, Kantor Robert Mühlberg, war ein Freund von Ernst Röver und klagte ihm im Herbst 1919 seine Organistennöte. Die Martinikirche beherbergte zwar ein ungemein wertvolles Orgelgehäuse aus dem Jahre 1596, doch dahinter stand kein funktionierendes Orgelwerk mehr. Da der Mietvertrag für die Orgel in Barmen nicht verlängert wurde, entschloss sich Ernst Röver die Orgel zurückzuholen und in der Stadtkirche St. Martini in Halberstadt einzubauen. Die Orgel sollte 75.000 Mark kosten und in Einzelraten von je 5.000 Mark, 15 Jahre lang, bezahlt werden. Dieser Betrag wurde etwas gemildert, da viele Spenden der Halberstädter und sogar aus den USA eingingen.

Im Sommer 1921 wurde mit dem Abbau der alten Orgel begonnen, dabei zeigten sich die schlimmen Schäden des alten Werkes, denn die Hälfte der Holzpfeifen warem vom Holwurm befallen. Dann wurde die Orgel aus Barmen in das vorhandene Gehäuse von 1596 eingebaut – was sich gut traf, denn das originale Gehäuse hatte Röver von dort nicht wieder mitgebracht. Der Aufbau der neuen Orgel ging zügig vonstatten und so konnte das klangvolle Werk zum Martini-Kirchweihfest, am 13. November 1921, eingeweiht werden. Beim Einbau wurde die Orgel offenbar leicht umgebaut, auch einen neuen Spieltisch mit etwas modernerer Optik brachte Röver an. Leider fehlen hierüber jegliche schriftlichen Dokumente.

Im April 1945 ereilte dann die Stadt Halberstadt jenes grausame Schicksal, das schon viele andere Städte vor ihr erlitten hatten: die Bombardierung durch die Alliierten des Zweiten Weltkriegs. Eine Brandbombe wurde direkt auf das Dach der Martinikirche abgeworfen. Es brannte drei Tage lang, die beiden Turmhelme stürzten um, doch das gotische Gewölbe der Kirche hielt stand, bis auf einige Trümmerteile.

Die Kirchenfenster gingen komplett zu Bruch. Die Orgel in ihrem wertvollen Gehäuse blieb glücklicherweise erhalten, obwohl sie in geringem Maße Wasserschäden erlitt (wohl beim Löschen des Brandes oder bei späteren Regenschauern). Der eigentliche Retter der Orgel war aber Harry Böger, der damalige Martinikirchen-Organist, der jahrelang täglich die Orgel spielte, um sie in Bewegung zu halten – und das bei Wind und Wetter in der Kirche ohne Fensterscheiben. Alte Halberstädter erzählen, wie man die Orgelklänge in der Stadt hören konnte, über alle Trümmerfelder hinweg.

Erst in den 80er Jahren wurde die Kirche wieder ganz hergerichtet. Zwischenzeitlich war aber an der Orgel Verschiedenes verändert worden. Unter anderem wurde ihr Klang verändert, denn die romantischen Klangvorstellungen waren in der Mitte des 20. Jahrhunderts in Verruf geraten. Und so schnitt man einfach von den Pfeifen einen Teil ab, oder ersetzte sie gar durch neue, damit sich andere Klänge ergaben: die typischen Klänge, die man sich heute vorstellt, wenn man auf einer silbrig-hell klingenden Orgel ein großes Werk von Johann Sebastian Bach präsentiert bekommt.

Später wurde die Orgel dann mehr oder weniger ganz aufgegeben, so dass es möglich wurde, ganze Pfeifenreihen auszubauen und an "bedürftige" Gemeinden zu verkaufen.

Heute ist das Werk zwar spielbar, aber von den einstmals 44 Registern sind nur wenige in Funktion. Glücklicherweise ist aber der überwiegende Teil der originalen Pfeifen (ursprünglich fast 2500 Stück) noch vorhanden.

Die "alte" Orgel

Dass es gelungen ist, dieses Orgelwerk für die St. Stephani-Kirche in Calbe anzukaufen, ist ein großer Glücksfall. Die Kirche hatte bereits eine Orgel von Ernst Röver, erbaut im selben Jahr 1899 und mit 36 Registern nur wenig kleiner als dieses "neue" Werk. Diese vormalige Orgel ist leider den Restaurierungsbemühungen in den 60er Jahren zum Opfer gefallen, als (wie oben erwähnt) der romantische Orgelklang heftig abgelehnt wurde. Fragt man Menschen, die sie noch gehört haben, bescheinigen sie jedoch einhellig, dass es ein großartiger Klang gewesen ist, der damals die St. Stephani-Kirche erfüllte.

Dieses Klangerlebnis wird nun wieder möglich. Die Gemeinde in Calbe rettet damit ein einzigartiges Zeugnis der mitteldeutschen romantischen Orgelbaukunst. Unter den gut 80 Orgeln von Ernst Röver, die bis heute erhalten geblieben sind, ist dieses Werk das drittgrößte (hinter der Benedikti-Kirche in Quedlinburg und der Stephani-Kirche in Aschersleben). Die beeindruckende spätgotische Hallenkirche in Calbe wird dadurch ohne Zweifel eine beeindruckend erfüllende klangliche Bereicherung erfahren.

Verfasser: Martin Günther
Nachträgliche Ergänzungen aus einem Text von Kantor Robert Mühlberg durch Nicole Kindermann